Thomas Kirchhoff

3. April 2019

geschrieben in Alle Neuigkeiten, ESP-DE Blog

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Um die Qualität unserer natürlichen Umwelt zu beschreiben und zu bewerten, entwickeln Fachdisziplinen wie Nachhaltigkeitsforschung, Naturschutz, Landschaftsplanung und Umweltökonomie oftmals eine spezielle Fachterminologie. „Ökosystemleistungen“ (englisch ecosystem services) ist ein solcher Fachbegriff. Eingeführt wurde er, um die zahlreichen Abhängigkeiten des Menschen von Natur und die Gefahren und Kosten durch Umweltzerstörungen zu verdeutlichen, die auch in modernen, industrialisierten Gesellschaften noch bestehen. Große Verbreitung gefunden hat das Konzept der Ökosystemleistungen insbesondere durch das von den Vereinten Nationen beauftragte „Millennium Ecosystem Assessment“ (MEA 2005) und durch die Studie „The Economics of Ecosystems and Biodiversity“ (TEEB 2010). Definiert werden Ökosystemleistungen dabei als die Nutzenstiftungen bzw. Vorteile (englisch benefits), die Menschen durch Ökosysteme erhalten.

Natur als Ökosystem zu konzeptualisieren, das bedeutet, Natur als einen naturwissenschaftlichen Gegenstand zu beschreiben, und zwar als ein kausales Wirkungsgefüge aus Organismen bzw. Populationen unterschiedlicher Arten und aus verschiedenen abiotischen Umweltfaktoren. Dabei interessiert man sich vor allem für die Stoff- und Energieflüsse des Gesamtsystems: Wieviel Biomasse wird auf- und abgebaut? Wieviel Energie bzw. welche Stoffe werden aufgenommen, gespeichert und abgegeben? (Vgl. Howard T. Odums Modell of Energy and Matter Flows in Ecosystems, 1971)

Abb.1: Howard T. Odums Modell of Energy and Matter Flows in Ecosystems, 1971. Quelle: Wikimedia Commons

Diese ökosystemtheoretische Perspektive auf Natur, die derjenigen auf eine Maschine ähnelt, ist sachlich angemessen, nützlich und wohl auch umweltpolitisch hilfreich, wenn es um die instrumentellen, materiellen Nützlichkeiten von Natur geht. Zum Beispiel lässt sich mit Ökosystemmodellen ermitteln, wieviele nachwachsende Rohstoffe ein Waldökosystem produziert (sog. bereitstellende Ökosystemleistungen), welche Luftschadstoffe es bindet oder wieviel Niederschlagswasser es zurückhält (sog. regulierende Ökosystemleistungen). Wenn hingegen die nicht-instrumentellen, nicht-materiellen ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen von Natur, zum Beispiel von Wäldern, ermittelt werden sollen, dann ist die ökosystemtheoretische Perspektive gänzlich ungeeignet. Denn weder die ästhetischen Qualitäten von Wäldern wie schön, erhaben, märchenhaft und unheimlich noch ihre symbolischen Bedeutungen wie Freiheit, Geborgenheit, Identität und Ursprünglichkeit sind durch naturwissenschaftlich-ökologische Begriffe beschreibbar; und sie sind auch nicht auf naturwissenschaftlich-ökologische Eigenschaften von Wäldern zurückführbar (Abb.2).

Abb. 2: Foto eines Buchenwaldes. Quelle: pixabay/minka2507

Um die ästhetisch-symbolischen Werte von Natur zu erfassen, sind vielmehr nicht-naturwissenschaftliche Konzeptualisierungen von Natur erforderlich, in denen Natur als das begriffen werden, was sie für die Betrachterinnen und Betrachter lebensweltlich vor allem ist: nämlich ein ästhetischer Gegenstand und ein kollektives kulturelles Symbol – dessen Bedeutungen im Laufe unserer Kulturgeschichte unter anderem durch literarisch-künstlerische Werke geprägt worden sind.

Es verhält sich bei Naturphänomenen wie Wäldern nicht anders als bei menschlichen Kunstwerken wie Melodien und Gemälden, über deren Ästhetik und Sinngehalt man durch physikalische Messung der Abfolge von Schallwellen bzw. chemische Analyse der Farbpigmente gar nichts herausfinden kann.

Deshalb ist das Konzept der sog. kulturellen Ökosystemleistungen, mit dem die ästhetisch-symbolischen Werte von Natur erfasst werden sollen, zwar gut gemeint; denn es ist gut und nicht selbstverständlich, dass nicht nur die instrumentell-materiellen, sondern auch die ebenfalls sehr wichtigen nicht-instrumentellen, nicht-materiellen Werte von Natur berücksichtigen werden sollen. Aber das Konzept der kulturellen Ökosystemleistungen ist sachlich unangemessen, weil durch seine ökosystemtheoretische Perspektive der Gegenstand dieser nicht-materiellen Werte falsch bestimmt wird. Das zeigt schon unsere Alltagssprache: Wir sagen nicht, wir seien in einem Ökosystem spazieren gegangen, sondern in einer Landschaft; wir sagen nicht, wir hätten im Urlaub ein Ökosystem erkundet, sondern eine Wildnis, wir sagen nicht, wir hätten ein erhabenes Ökosystem genossen, sondern die erhabene Bergwelt der Alpen usw. (Abb. 3).

Abb. 3: Watzmann in den Berchtesgadener Alpen. Quelle: Wikimedia Commons, © Günter Seggebäing, CC BY-SA 3.0

Dass mit dem Konzept der sog. kulturellen Ökosystemleistungen der Gegenstand der ästhetisch-symbolischen Werte von Natur falsch bestimmt wird, ist nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch problematisch. Erstens läuft man Gefahr zu verkennen, worauf es ankommt, wenn ästhetische Qualitäten und symbolische Bedeutungen zum Beispiel von Wäldern erhalten werden sollen: nämlich nicht auf bestimmte ökologische Prozesse, sondern auf bestimmte Waldbilder und Waldsymboliken. Zweitens ergeben sich Kommunikationsprobleme, weil viele Menschen ihre emotionalen Beziehungen zu Naturphänomenen und ihre nicht-instrumentellen Wertschätzungen von Natur durch das Konzept der kulturellen Ökosystemleistungen mit seinen naturwissenschaftlich-technischen („System“) und utilitaristischen („Dienstleitung“) Konnotationen – zu Recht – nicht repräsentiert sehen.

Wälder und andere Naturphänomene im Hinblick auf ihre ästhetischen Qualitäten und symbolischen Bedeutungen als Ökosystemleister zu konzeptualisieren, ist ein Beispiel für das, was der Philosoph John Dupré einen „szientifischen Imperialismus“ genannt hat: Es werden Begrifflichkeiten und Methoden einer naturwissenschaftlichen Disziplin in Wirklichkeitsbereichen angewendet, für die sie nicht geeignet sind. Um die so wichtigen nicht-instrumentellen, nicht-materiellen Wahrnehmungsweisen, Bedeutungen und Werte von Natur zu berücksichtigen, sollte man deshalb nicht von Ökosystemleistungen sprechen, sondern zum Beispiel von den ästhetisch-symbolischen Qualitäten und Werten von Natur.

Autor:

Thomas Kirchhoff ist Privatdozent für „Theorie der Landschaft“ am Wissenschaftszentrum Weihenstephan für Ernährung, Landnutzung und Umwelt (WZW) der Technischen Universität München (TUM) und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. (FEST), Institut für Interdisziplinäre Forschung, Heidelberg, http://www.fest-heidelberg.de/pd-dr-thomas-kirchhoff/.

Literatur des Autors zum Thema:

Kirchhoff, T. (2019): Abandoning the concept of cultural ecosystem services, or Against natural–scientific imperialism. BioScience 69 (3): 220–227, https://doi.org/10.1093/biosci/biz007.

Kirchhoff, T. (2018): „Kulturelle Ökosystemdienstleistungen“. Eine begriffliche und methodische Kritik. (Reihe PHYSIS, Band 4). Freiburg/München, Alber, http://www.verlag-alber.de/suche/details_html?k_tnr=48971.

Kirchhoff, T., & Trepl, L. (2009). Landschaft, Wildnis, Ökosystem: Zur kulturbedingten Vieldeutigkeit ästhetischer, moralischer und theoretischer Naturauffassungen. Einleitender Überblick. In: Kirchhoff, T. & Trepl, L. (Hg.), Vieldeutige Natur. Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene. Bielefeld, transcript: 13–66, https://www.transcript-verlag.de/978-3-89942-944-2/vieldeutige-natur/

„Kulturelle Ökosystemleistungen“ – ein gut gemeintes, aber problematisches Konzept

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