Annegret Haase & Anika Schmidt

13. November 2019

geschrieben in Alle Neuigkeiten, ESP-DE Blog

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Die Debatte zur Rolle und Funktion urbaner Frei- und Grünräume im Quartier hat in den letzten Jahren an Perspektiven gewonnen und ist sowohl thematisch als auch hinsichtlich der theoretisch-konzeptionellen Zugänge vielschichtiger geworden (u.a. Kowarik et al. 2016). Debatten, welche von der Perspektive der Stadtökologie auf Freiräume schauen, nehmen sozialwissenschaftliche Erkenntnisse stärker in den Blick, wogegen in der sozialwissenschaftlichen Forschung Themen wie Natur und Biodiversität „entdeckt werden“. Schritt für Schritt entwickelt sich hier eine integrative Perspektive. Damit rücken auch kritische Aspekte – wie die der Umweltgerechtigkeit und der Rolle von Freiräumen im Kontext der Teilhabe – mehr in den Vordergrund. Diese Debatten und Ansätze sollten ausgebaut werden, denn wenig bis unreflektierte Vermutungen zum grundsätzlich positiven Effekt von Stadtgrün und Begrünung für das soziale Miteinander sind nach wie vor weit verbreitet. Insbesondere werden Aspekte der sozialräumlichen Ungleichheit, ungleiche Zugangs-, Verteilungs- und Machtlogiken kapitalistischer Marktbedingungen und die Bedingungen multipler Benachteiligung noch zu wenig mitgedacht. Es gibt einerseits viele Vermutungen über die positiven Effekte von städtischem Grün, also urbaner grüner Infrastruktur, für den städtischen Sozialraum bzw. den sozialen Zusammenhalt. Andererseits werden Probleme, Ambivalenzen oder Konflikte – besonders Zielkonflikte zwischen ökologischer Aufwertung und sozialem Zusammenhalt – ebenso wie ihre politökonomischen Determinanten noch immer ungenügend berücksichtigt. Neuere Debatten wie die um die sogenannte „grüne Gentrifizierung“ weisen auf diese Problematik hin, müssten aber noch stärker Eingang in die Diskussion zur Gestaltung und Nutzung von Grünräumen finden. Andererseits werden Fragen der Stadtnatur als Wert „an sich“ sowie zur ökologischen Qualität urbaner Freiräume oftmals nicht detailliert oder gar nicht berücksichtigt, wenn die soziale Nutzung oder Teilhabefragen im Vordergrund stehen.

Der spezifische Blick der Ankunftsquartier-Perspektive (Hans et al. 2019) ist vergleichsweise neu, zumindest mit seinem Fokus auf einer lokalen Infrastruktur, welche das „Ankommen“ in der Gesellschaft und damit die soziale Teilhabe vor Ort ermöglicht bzw. unterstützt. Noch mehr trifft dies auf die Diskussionen zur Rolle von Grün- und Freiräumen in solchen städtischen Teilräumen zu (Berding 2013). Die Forschung zur Frage, in welchem Maße und wie genau urbane grüne Freiräume zum sozialen Zusammenhalt in heterogenen Quartieren beitragen können, bezieht sich bislang oftmals auf spezifische Gruppen von Zuziehenden bzw. Gruppierungen nach Herkunftsländern oder macht eine vereinfachte Trennung zwischen MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen auf. Hier bestünden Potentiale einer stärkeren Berücksichtigung aktueller Diskussionen zu Differenz, Diversität und Intersektionalität, gerade auch jene zu den ambivalenten Auswirkungen im Quartierskontext sowie auf das Zusammenleben im Quartier. Diese könnte helfen, der zunehmenden Heterogenität der Bevölkerung, entsprechender Bedarfe an urbanen Freiräumen und deren Gestaltung und Nutzung sowie damit verbundener Notwendigkeiten der Aushandlung von Interessen und Konflikten gerecht zu werden. In der Diskussion zur kooperativen Freiraumentwicklung spielen Perspektiven von Menschen mit internationaler Biographie bislang eine untergeordnete Rolle, ebenso wie die Anforderungen für die Teilnahme und Teilhabe unterrepräsentierter Gruppen an kooperativen und partizipativen Prozessen allgemein. Hier lohnt es sich die praxisnahen Debatten zu und Erfahrungen mit der Teilhabe und Beteiligung an Stadtentwicklungsprozessen in benachteiligten Quartieren (BBSR 2017, Kabis-Staubach/Staubach 2017, Tribble et al. 2017) weiter mit denen zur kooperativen Freiraumentwicklung zusammenzubringen und an die neueren Diskussionen und empirischen Vertiefungen der Perspektive der Ankunftsquartiere anzubinden (siehe Diskussionspapier, Haase/Schmidt 2019). Gerechtigkeitsfragen im Zusammenhang mit Aneignungsprozessen sind ein wichtiges Thema, denn die Aneignung urbaner Freiräume durch neue und ggf. exklusive Teilöffentlichkeiten, wie im Kontext kooperativer Freiraumprozesse kann auch exkludierend auf jene wirken, die durch ihre Abwesenheit unsichtbar sind. Die Rolle von Aneignungsprozessen als Repräsentationen sozialer Machtverhältnisse und ungleicher Durchsetzungschancen von Interessen müssen stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.
Weitestgehend unbeantwortet ist bislang auch die Frage, wie sich die spezifischen Bedarfe in Ankunftsquartieren in kooperative Entwicklung und Gestaltung sowie daraufhin ausgerichtete Planungskulturen (Sondermann 2017) integrieren lassen. Es braucht mehr Auseinandersetzung darüber, wie unter den Bedingungen einer hohen Dynamik und Fluktuation mit Fragen der Verstetigung und Anwaltschaft umzugehen ist, wie man sicherstellen kann, dass möglichst viele BewohnerInnen, die sich am kooperativen Prozess beteiligt haben, langfristig etwas vom Ergebnis haben und wie bestehende (positive, negative) Erfahrungen der verschiedenen Gruppen von BewohnerInnen mit kooperativen Prozessen bei aktuellen und zukünftigen Vorhaben gut einbezogen werden können. Darüber hinaus bestehen für eine Beteiligung in Ankunftsquartieren noch zusätzliche strukturelle oder funktionale Herausforderungen wie Sprachbarrieren, unterschiedliche Sozialisationen und sich daraus ergebende Alltagspraxen sowie zum Teil fehlendes Vertrauen in Politik und Verwaltung. Nicht zuletzt müssen Zielkonflikte zwischen einer ökologischen Aufwertung und sich evtl. ergebenden negativen Konsequenzen für einkommensarme Haushalte (durch begleitende oder nachfolgende Sanierung und bauliche Aufwertung sowie Verdrängung) in den Blick genommen werden und im Zusammenhang mit Gerechtigkeitsdebatten diskutiert werden. Auch zur Frage, wie sich implizites Wissen sowie verschiedene Wissensbestände und Vorstellungen einer Freiraumnutzung gut integrieren lassen und wo Wissen zu Bedarfen und potentiellen Interessen der NutzerInnen fehlt, ist noch vieles offen, unklar bzw. unbekannt. Dasselbe gilt für die Frage, welche spezifischen Ressourcen i.S.v. Wissen, Qualifikationen etc. vorhanden sind, die bislang nicht bekannt sind oder nicht genutzt werden.

 

Allgemein lässt sich sagen, dass die beschriebenen Zielstellungen einer kooperativen Freiraumentwicklung in der Realität der Planung grüner Freiräume insgesamt noch keine große Rolle spielen. Vielerorts fehlen auf Seiten der Kommunen die entsprechenden ämterübergreifenden Zielstellungen, Kompetenzen und Ressourcen für wirklich kooperative Ansätze – seien sie top-down oder bottom-up initiiert. Darüber hinaus stellen kooperative Prozesse eine Herausforderung für bestehende Machtverhältnisse und in diese eingeordnete Entscheidungsprozesse dar. So gesehen besteht eine Diskrepanz zwischen der Forderung nach kooperativen und partizipativen Ansätzen in wissenschaftlichen Publikationen bzw. im planerischen Fachdiskurs einerseits und dem politischen Willen bzw. Vermögen zur Umsetzung solcher Ansätze durch Praxis und Zivilgesellschaft in den Städten andererseits.

Stadtgesellschaften stehen durch Zuwanderung und wachsende Vielfalt vor gewaltigen Herausforderungen. So gesehen sind viele Trends der nahen Zukunft heute nur schlecht oder gar nicht absehbar. Das gilt auch für Bedarfe an Freiräume und deren Nutzung. Daher spricht vieles für das Denken entlang eines flexiblen Kontinuums von pragmatisch bis normativ oder gar utopisch; anstatt Lösungen sollten Kompromisse und ergebnisoffene Ansätze stärker in den Vordergrund treten. Es sollten Kooperationsformate angestrebt werden, welche nicht unter dem Vorzeichen ressourcen- und defizitorientierter Ansätze stehen, sondern denen eine „Vielfalt als Normalität“ (Beer 2013: 46) und ein „diversitätsbewusster Blick“ (Yildiz 2009) zugrunde liegen. Auch die (wissenschaftliche und praxisnahe) Debatte zu urbanen Freiräumen und deren Entwicklung selbst erfordert eine offene Perspektive und ein aufmerksames Auge für Kontextfaktoren, unter diesen auch Widersprüche und Konflikte. Es braucht daher konstruktiv-kritische, theoretisch fundierte und auf Anwendbarkeit orientierte Auseinandersetzungen und weitere Projekterfahrungen, um entsprechende Hemmnisse und Hindernisse zu identifizieren und offene Forschungsfragen im Nexus „urbane grüne Freiräume – Ankunftsquartiere – kooperative Entwicklung“ zusammen zu denken, theoretisch zu fassen und daraus analytisches und praxisbezogenes Wissen zu generieren (siehe auch Diskussionspapier Haase/Schmidt 2019).

Grundlage

Haase, A., Schmidt, A. (2019): Grüne Freiräume in Ankunftsquartieren: Funktionen und Herausforderungen für ihre kooperative Entwicklung. UFZ Discussion Papers, Dept. of Urban and Environmental Sociology, 4/2019, Leipzig. https://www.ufz.de/export/data/global/228313_DP_2019_04_HaaseSchmidt.pdf
Dieser Text wurde im Rahmen des Projekts „KoopLab: Teilhabe durch kooperative Freiraumgestaltung in Ankunftsquartieren“ (www.kooplab.de) verfasst und basiert auf dem oben erwähnten Working Paper.

Kontakt:

Dr. Annegret Haase: annegret.haase@ufz.de
Anika Schmidt: anika.schmidt@ufz.de

Literatur / Weiterlesen:
  • Beer, I. (2013): Quartiersentwicklung als Diversitäts- und Teilhabestrategie. Zwischen traditionellen Integrationsdiskursen und gelebten Migrationsrealitäten. In: Schnur, Olaf; Zakrzewski, Philipp; Drilling, Matthias (Hrsg.): Migrationsort Quartier. Zwischen Segregation, Integration und Interkultur. Wiesbaden: Springer VS, 41-53.
  • Berding, U. (2013): Öffentliche Räume – Orte der gesellschaftlichen Integration? Vhw Forum Wohnen und Stadtentwicklung 5/2013: 247-250.
  • Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR)(2017): Zukunft im Quartier gestalten. Beteiligung für Zuwanderer verbessern. Abrufbar unter: https://www.netzwerk-buergerbeteiligung.de/fileadmin/Inhalte/PDF-Dokumente/zukunft-quartier-beteiligung-zuwanderer-dl.pdf (11.11.2019).
  • Hans; N.; Hanhörster, H.; Polivka, J.; Beißwenger, S. (2019): Die Rolle von Ankunftsräumen für die Integration Zugewanderter. Eine kritische Diskussion des Forschungsstandes. Raumforschung und Raumordnung 77(5): 1-14.
    Kabis-Staubach, T.; Staubach, R. (2017): Beteiligung und Aktivierung im Stadtteil. Wissenschaftliche Betrachtungen und praktische Erfahrungen aus dem Planerladen in der Dortmunder Nordstadt. eNewsletter Netzwerk Bürgerbeteiligung 01/2017.
  • Kowarik, I.; Bartz, R.; Brenck, M. (Hrsg.)(2016): Naturkapital Deutschland – TEEB DE: Ökosystemleistungen in der Stadt – Gesundheit schützen und Lebensqualität erhöhen. Technische Universität Berlin, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ. Berlin, Leipzig.
  • Sondermann, M. (2017): Planungskulturen kooperativer Stadtgrünentwicklung, Hannover.
    Tribble, R.; Wedler, P.; Katthagen, V. (2017): PlanBude Hamburg. Kollektives Wissen als Grundlagevon Stadtgestaltung. Sub\urban 5(1/2): 267-276
  • Yildiz, E. (2009): Vom hegemonialen zu einem diversitätsbewussten Blick auf die Einwanderungsgesellschaft. Abrufbar unter: https://heimatkunde.boell.de/2009/07/18/vom-hegemonialen-zu-einem-diversitaetsbewussten-blick-auf-die-einwanderungsgesellschaft (3.3.2019).
Grüne Freiräume in heterogenen Quartieren sowie Chancen ihrer kooperativen Entwicklung: Wie sind diese Debatten bislang verknüpft und welche offenen Fragen gibt es?

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